Die Pandemie führt zu mehr Kinderehen
Finanzielle Notlagen, Nahrungsmittelknappheit, Naturkatastrophen, gewalttätige Konflikte: Das alles stellt Menschen in den ärmsten Regionen der Welt täglich vor die Frage, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Hunger ist allgegenwärtig, und für viele Familien gibt es oft nur noch einen Ausweg: Kinderheirat. Die Zahl der Kinderehen ist in den vergangenen Monaten sprunghaft gestiegen, betroffen sind nach wie vor die Mädchen. Die Pandemie hat ihre Situation vielerorts weiter verschlechtert, je nachdem, welche Maßnahmen die jeweilige Regierung verhängt hat. Schulschließungen beispielsweise führen dazu, dass Mädchen ihre Ausbildung abbrechen müssen und gleichzeitig den Kontakt zu Freundinnen bzw. Freunden verlieren. Reisebeschränkungen wiederum erschweren den Zugang zu Unterstützungsnetzwerken oder Gesundheitsvorsorge. Wie stark das Risiko einer Kinderheirat steigt, ist außerdem davon abhängig, ob im jeweiligen Land Kinder-Schutzmaßprogramme existieren, ob es Unterstützung bei der Armutsbekämpfung gibt, wie stabil die Wirtschaft eines Landes ist oder ob kriegerische Konflikte das Land schwächen.
Das Ergebnis ist in jedem Fall eine explosive Mischung, die das Risiko von Kinderehen nach oben schnellen lässt. Denn Familien stehen unweigerlich vor der Frage: Wie können alle Familienmitglieder ernährt werden? Kinderheirat erscheint dann oft als einziger Ausweg aus der Krise: Einerseits wird das Mädchen von seinem Ehemann versorgt, was seine Familie wirtschaftlich entlastet. Andererseits ist es in manchen Gemeinden üblich, dass die Eltern des Bräutigams der Familie der Braut einen „Brautpreis“ bezahlen.

Zu viele legale Schlupflöcher
Wie viele Kinderehen in den vergangenen Monaten geschlossen wurden, lässt sich nicht immer nachvollziehen, denn oft werden diese Ehen nicht behördlich registriert. Dazu kommen informelle Lebensgemeinschaften unmündiger Mädchen mit erwachsenen Männern. Und auch wenn es mittlerweile in vielen Ländern Gesetze gibt, die Kinderheirat verbieten: Lokale Regelungen unterlaufen diese Gesetze und schaffen quasi legale Schlupflöcher.
Lesotho ist eines dieser Länder: Seit 2011 gibt es hier ein Gesetz zum Schutz von Kindern, das Ehen vor dem 18. Geburtstag verbietet. Werden Kinder zur Ehe gezwungen, müssen sie sofortigen Schutz erhalten. Parallel dazu existiert jedoch noch ein Gesetz aus dem Jahr 1974. Dieses erlaubt die Ehe für Mädchen ab 16 Jahren, wenn die Eltern dem zustimmen. Schließlich gibt es lokale Regelungen, die eine Verheiratung von Mädchen erlauben, sobald die Pubertät eingesetzt hat. Die Folge: Noch immer wird jedes fünfte Mädchen vor seinem 18. Geburtstag gegen seinen Willen verheiratet.
Die Regierung von Lesotho hat sich daher bereits 2015 dazu verpflichtet, die Kinderheirat bis 2030 abzuschaffen. Sie setzt dabei unter anderem auf Bewusstseinsbildung und Aufklärung. Dazu werden alle wichtigen Entscheidungsträger von Stammesoberhäuptern über Gemeindevertreter und Parlamentarier bis hin zu Religionsvertretern eingebunden, die Polizei verfügt mittlerweile über eine eigene Einheit für den Schutz von Kindern und Frauen (GCPU), und auch Sexualunterricht bzw. Aufklärung werden vorangetrieben. Und selbstverständlich ist auch World Vision vor Ort, um in Zusammenarbeit mit den Behörden bzw. GCPU Kinder aus Zwangsehen zu befreien.
Die Errungenschaften der vergangenen zehn Jahre sind nun ernsthaft gefährdet, und das nicht nur in Lesotho. Schätzungen zufolge könnte die Zahl der Mädchen, die von Kinderheirat bedroht sind, bis zum Ende des Jahrzehnts auf 110 Millionen steigen. Nur sofortige Maßnahmen und die uneingeschränkte Fortsetzung der bisherigen Arbeit können das verhindern: Schulen müssen wieder aufsperren, es braucht wirksame Gesetze, den gesicherten Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten und umfassende soziale Schutzmaßnahmen für Familien.